Frau Bohl, bisher war es so, dass Angehörige für ihre pflegebedürftigen Eltern unterhaltspflichtig waren, sofern die Einkünfte des zu Pflegenden zusammen mit der Pflegeversicherung nicht für die Versorgung ausgereicht haben, richtig?
Richtig, dieser Grundsatz bleibt auch bestehen. Wenn das Geld des zu pflegenden Familienmitgliedes und die Mittel aus der Pflegeversicherung nicht ausreichen, können beispielsweise die angehörigen Kinder für die Leistungen belangt werden. Aktuell liegt die Einkommensgrenze, das sogenannte Schonvermögen, noch bei ca. 22.000 Euro für Alleinstehende und ca. 40.000 Euro steuerpflichtigem Einkommen bei Verheirateten.
Was soll sich zukünftig mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz diesbezüglich ändern?
Mit dem neuen Angehörigen-Entlastungsgesetz wird die Einkommensgrenze auf 100.000 Euro Jahresbruttoeinkommen hochgesetzt. Das bedeutet, auf das Einkommen von Kindern pflegebedürftiger Eltern wird zukünftig erst ab einem jährlichen Einkommen von 100.000 Euro zurückgegriffen werden. Alle, die weniger verdienen, müssen dann nicht mehr für die Pflegekosten ihrer Eltern aufkommen. Die Entlastung wäre also enorm. Rund 90% der bisher Zahlungspflichtigen würden dadurch entlastet. Ebenso Eltern volljähriger Menschen mit Behinderung sollen erst dann bei Leistungen zu zahlen, wenn sie mehr als diese 100.000 Euro im Jahr verdienen. Dabei geht es z.B. um Maßnahmen der Eingliederungshilfe - wie beispielsweise Umbaumaßnahmen für barrierefreie Wohnungen. Daneben sieht das Gesetz eine Förderung der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung vor.
Der Eindruck, dass alle Angehörigen unterhalb der Bemessungsgrenze nun entlastet werden, ist jedoch falsch. Angehörige, die ihre Lieben selbst pflegen erhalten für diese Arbeit weiterhin keine Gegenleistung o.ä.
Gilt das Angehörigen-Entlastungsgesetz für jede Versorgungsform? Ambulant und stationär?
Prinzipiell gilt es für jeden Fall, in dem der betroffene Pflegebedürftige die Kosten für Pflege nicht alleine aufbringen kann: sowohl ambulant als auch stationär. Greifen wird das Gesetz wahrscheinlich zunächst bei der stationären Versorgung. Hier sind für gute Heime Eigenanteile von 2.000 bis 3.000 Euro monatlich - oder mehr - keine Seltenheit. In der ambulanten Versorgung, die sich nachweislich die meisten Betroffenen ausdrücklich wünschen, haben die Familien in der Vergangenheit gelernt, selbst zurecht zu kommen. Es werden nicht ohne Grund rund 70% aller Pflegebedürftigen zuhause von Angehörigen gepflegt und versorgt.
Was könnte das neue Gesetz für Familien bedeuten, die Hausengel-Dienstleistungen in Anspruch nehmen oder nehmen möchten?
Leider wird es hier wenig Entlastung geben. Die Finanzierung einer qualifizierten und ausgebildeten Betreuungskraft ist weiterhin eine reine Privatleistung der Familie. Es gibt natürlich steuerliche Entlastungen oder die Möglichkeit, verschiedene Leistungen der Pflegeversicherung zu nutzen. Im Großen und Ganzen handelt es sich aber um Ausgaben, die die Familie alleine stemmen muss. Das Gesetz bezieht sich eher darauf, dass zukünftig die Sozialämter einspringen, sollte der Eigenananteil in einem Heim zu hoch sein. Fairerweise muss man jedoch sagen, dass wir bereits heute Pflegebedürftige betreuen, bei denen das Sozialamt die vollen Kosten eines Hausengels trägt. Ich gehe davon aus, dass die Anzahl dieser Personen durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz leicht ansteigen wird, jedoch nicht signifikant.
Wer hat das Angehörigen-Entlastungsgesetz auf den Weg gebracht?
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Gesetz ins Kabinett eingebracht. Er hat jedoch ausdrückliche Unterstützung von Jens Spahn (CDU), der als Gesundheitsminister schon länger eine Verbesserung der gesamten Pflegesituation im Fokus hat. Darüber hinaus bestand bereits in den Koalitionsverhandlungen Einigkeit zwischen den Parteien über dieses Gesetz.
Für wie sinnvoll erachten Sie das neue Gesetz?
Prinzipiell sehe ich das Gesetz sehr positiv und begrüße diese Entwicklung. Ein Pflegefall kann schnell zu einer enormen Belastung für die gesamte Familie werden. Pflegende Angehörige können in solch einer Situation an ihre Grenzen kommen - physisch, psychisch aber eben auch finanziell. Ich verstehe das Gesetz deswegen auch als ein wichtiges Signal, dass die Belastungen, die durch einen Pflegefall entstehen können, gesehen werden, ernst genommen werden. Es hat auch einfach ein Stück mit Wertschätzung und Anerkennung zu tun. Es ist, aus meiner Sicht, generell ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn weiterhin noch viel für Pflegebedürftige, pflegende Angehörige und betroffene Familien getan werden muss.
Was sehen Sie denn möglicherweise kritisch in diesem Zusammenhang?
Leider werden, wie so oft, die pflegenden Angehörigen nicht ausreichend betrachtet. Denn diese übernehmen einen Großteil der Versorgung zuhause – rund 70% aller Pflegebedürftigen werden von Angehörigen in den eigenen vier Wänden versorgt. Hier fehlt es weiterhin an spürbarer Entlastung und Unterstützung. Diese Angehörigen suchen sich oft Hilfe und Unterstützung durch Betreuungskräfte aus Osteuropa, die in den Haushalt der Betroffenen einziehen. Hier existieren aber immer noch keine einheitlichen Qualitätsstandards, Anforderungen und Vorgaben – ganz zu schweigen von einer finanziellen Entlastung. Auch wenn ich das neue Gesetz ausdrücklich begrüße; am Ende des Tages bleibt natürlich auch immer die Frage nach der Finanzierung. Die Kosten dafür werden immerhin auf bis zu 319 Millionen Euro für Länder und Kommunen sowie 79 Millionen Euro für den Bund geschätzt. Woher dieses Geld kommen soll, ist noch nicht geklärt.
Wann wird das neue Gesetz ihrer Meinung nach in Kraft treten?
Nachdem das Gesetz von der Bundesregierung beschlossen wurde, müssen der Bundestag und der Bundesrat dem Gesetz noch zustimmen. Ich denke jedoch, dass hier keine großen Stolpersteine mehr lauern, zumal in der großen Koalition bereits seit dem Koalitionsvertrag Einigkeit herrscht.